Schillgallen -der Ort und seine Kirche
Schillgallen war eine kleine Ortschaft, die ehemals zum Kreis Heydekrug gehörte. Im Zuge der politischen Umwälzungen infolge des Ersten Weltkriegs wurde Schillgallen - wie alle südlich der Memel gelegenen Gebiete dieses Kreises - in den dortigen Kreis Niederung (nach 1938:,,Elchniederung'') überführt.
,,Schillgallen'' ist eine Eindeutschung des litauischen Namens „Silgaliai“ die Bedeutung erklärt sich aus lit. „silas“ = „Heide“ und „galas'' = ,,Ende“, der Name bezeichnet also einen Ort, der am Rand eines Heidegebietes liegt. In „Preußisch Litauen“ gab es mehr als ein halbes Dutzend weiterer Ortschaften mit demselben Namen.Schillgallen (Kreis Heydekrug/Elchniederung) wurde 1938 im Zuge der „Germanisierung“ von „artfremden“ Ortsnamen in „Hochdünen“ umbenannt; es ist nicht anzunehmen, dass sich diese Bezeichnung in den verbleibenden sieben Jahren bis zur Vertreibung im Allgemeinbewusstsein entscheidend durchgesetzt hat, sodass es hier bei „Schillgallen“ verbleiben soll. Mit der kriegsbedingten Räumung des Gebiets hat auch Schillgallen als Ortschaft aufgehört zu existieren; es kam nicht mehr zu einer Neubesiedlung, und der Ort erhielt auch keinen neuen - russischen - Namen.
Schillgallen war, wie schon erwähnt, ein kleiner Ort, der zuletzt kaum mehr als 120 Einwohner zählte. Aus einer 1789 datierenden Prästationstabelle ergibt sich, dass damals ganze 16 Familien den Ort bevölkerten. Wann genau Schillgallen besiedelt wurde, ist nicht bekannt, aber der Ort muss noch um einiges älter gewesen sein, wird er doch schon um 1700 im Kirchenbuch von Karkeln erwähnt. Nach 1710 gehörte Schillgallen zum neu errichteten (evangelischen) Kirchspiel Schakuhnen.
Wenn man die Landstraße von Kaukehmen Richtung Kallningken fährt, liegt Schillgallen rechter Hand. Nur eine kurze Wegstrecke hinter dem Abzweig nach Schakuhnen führt ein unbefestigter Weg in Richtung Russ-Strom. Nach vielleicht zwei Kilometern gelangt man zu dem, was vor einem Dreivierteljahrhundert einmal Schillgallen war: Ein gespenstischer und andererseits auch wieder äußerst friedlicher Eindruck.
Es existiert - soweit ersichtlich - kein altes Gebäude mehr. Aber anders als bei manchem ,,verschwundenen'' Ort im Kreis Niederung, bei dem man vor einer mehr oder weniger großen Brachfläche steht und nur anhand alten Kartenmaterials ,,weiß'', dass sich an der fraglichen Stelle früher diese oder jene Ansiedlung befunden hat, kann man in Schillgallen noch heute die Strukturen erkennen, in denen es seinerzeit bebaut war. Alte Bäume, die nicht von der Natur, sondern von Menschenhand in regelmäßigen Reihen gesetzt wurden, lassen noch heute von einander abgegrenzte Parzellen erkennen, und die von geraden Baumreihen umrahmten Freiflächen zeigen an, wo sich vor 75 Jahren noch Höfe befunden haben. Man spürt geradezu - viel mehr als bei den aufgezeigten Brachflächen -, dass hier einmal Menschen gelebt haben.
Neben der geordneten Struktur eines nicht mehr existierenden Ortes gibt es auch ein großes Maß an „Unordnung“. Denn selbstredend hat über Jahrzehnte hinweg der Wildwuchs der Natur das einst von Menschen kultivierte Gelände nachhaltig überwuchert. Man kann für die Vergangenheit ebenso wie für die Zukunft erahnen, waseinst gewesen ist und was einst sein wird - eine geschichtliche Momentaufnahme, bei der man regelrecht Zeitzeuge wird, wie sich die Natur alles ,,Zivilisierte'' zurückholt, wenn der Mensch verschwunden ist.
Schillgallen - ein kleiner Ort, wie es viele gegeben hat, und doch hebt ein Umstand ihn gegenüber allen anderen Ortschaften und Dörfern des Kreises Niederung hervor: In einer Gegend, in der die überwältigende Mehrheit der Bevölkerung evangelisch war, befand sich hier die weit und breit einzige katholische Kirche.
Schon in Ordensritterzeiten war man kurz nach der Reformation zum evangelischen Glauben übergetreten, und so war „Preußen“, das nach der Verweltlichung des Ordens gebildet wurde, ein evangelischer Staat. Zu jenen Zeiten galt der Grundsatz, dass die Bevölkerung, was den Glauben anging, dem Herrscherhaus folgte - zu folgen hatte!-, und das war dann für die folgenden Jahrhunderte gelebte Realität für (nahezu) alle. Das war nicht nur selbstverständlich für die zahlreichen evangelischen Glaubensflüchtlinge, die der Preußenkönig ins Land geholt hatte; auch die noch zahlreicheren („von Hause aus“ katholischen) Litauer, die sich im Zuge der Urbarmachung und Besiedlung in der Gegend niederließen, wurden evangelisch.
Natürlich gab es auch Katholiken in Ostpreußen, aber die katholische Kirche als solche hatte es vor dem aufgezeigten Hintergrund schwer, hier Fuß zu fassen. Das lag weniger an einer dem Katholizismus feindlichen Einstellung des protestantischen preußischen Staates - der Gedanke der ,,Glaubensfreiheit'' war in Preußen sicherlich weiterentwickelt als vielfach sonst -, als vielmehr daran, dass es einfach zu wenig Gläubige gab. So dauerte es nach der Gründung des preußischen Königreichs noch einmal mehr als ein Jahrhundert, bis die erste katholische Gemeinde im Kreis Niederung gebildet wurde - in Schillgallen!
Die ersten katholischen Kirchenregister wurden 1823 angelegt, und während es in der Gegend ein gutes Dutzend evangelischer Sprengel gab, hatte der katholische Pfarrer das gesamte Gebiet allein zu betreuen; seine Pfarrei erfasste auch zahlreiche Ortschaften auf der nördlichen Seite der Memel.
Ja, in den ersten Jahrzehnten seines Bestehens wurden im katholischen Kirchspiel Schillgallen auch Amtshandlungen zu Personen aus Ortschaften vorgenommen, die gar nicht zu Preußen, sondern zum angrenzenden - damals ip. Russland liegenden - litauischen Kerngebiet ,,Szamaiten'' gehörten. Die Situation änderte sich erst, als in den 1850er Jahren in Szibben (bei Heydekrug) ein weiteres katholisches Kirchspieleingerichtet wurde, das für die - bis dahin zu Schillgallen gehörenden - Ortschaften im Memelland zuständig wurde. Der Betrieb lief sehr langsam an. 1854 war eine Kirche errichtet, in der der Pfarrer von Schillgallen alle drei Wochen Gottesdienst abhielt. Die Kirchenregister wurden zunächst noch in Schillgallen geführt. Ab 1861 dann gab es in Szibben eigene Bücher, und die Kirchenbücher von Schillgallen enthielten im Wesentlichen nur noch Einträge von Bewohnern südlich der Memel; aber das Kirchspiel erfasste immer noch die gesamte Gegend, die auch als „Tiefe Niederung“ bekannt ist und in der es zur selben Zeit mit Kaukehmen, Lappienen, Schakuhnen, Kallningken, Karkeln und lnse immerhin sechs evangelische Kirchengemeinden gab.
Die Kirchenbücher von Schillgallen sind offenbar im Wesentlichen bis heute in Form von Mikrofilmen erhalten. Die Liste des Leipziger Staatsarchivs weist einen kompletten Bestand von 1823 bis 1874 aus, und in einem polnischen katholischen Archiv sollen sich sogar Mikrofilme mit Registern bis in die ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhundertsbefinden. Im Internet sind die Register von Schillgallen für den Zeitraum 1823-1877 erfasst (also drei Jahre mehr als bei den sonstigen Mikrofilmen, die auf der vorliegenden Website veröffentlicht sind). Bei „ancestry“ ist freilich nur das Heiratsregister ins Netz gestellt; alle drei Register des fraglichen Zeitraums finden sich hingegen bei „familysearch“.
Im Vergleich zu den evangelischen Kirchenbüchern aus demselben Zeitraum und derselben Region lassen sich, was die Register von Schillgallen betrifft, einige Besonderheiten entnehmen.
So fällt auf, dass ein erheblicher Anteil derjenigen, die die Dienste des katholischen Pfarrers in Anspruch nahmen, polnische Namen trugen. Offenbar handelte es sich um Polen, die als Wanderarbeiter ins Land gekommen waren. In Polen war (und ist man noch heute) weit überwiegend katholisch, und in einer sich stetig entwickelnden Landwirtschaft sind Arbeitskräfte - auch von außerhalb der Region - stets gefragt, und so verwundert es nicht, wenn anders als in den Kirchenbüchern der umliegenden evangelischen Kirchspiele - in den Registern der katholischen Kirche von Schillgallen besonders viele Namen polnischen Ursprungs zu finden sind.
Ebenso wie auf evangelischer Seite im Hinblick auf den hohen Bevölkerungsanteil an litauischen Muttersprachlern seitens der Kirchenleitung Wert darauf gelegt wurde, dass der örtliche Pfarrer neben Deutsch auch das Litauische beherrschte, scheint diekatholische Kirche der anders zusammengesetzten Klientel Rechnung getragen zu haben.
Zumindest in den ersten Jahrzehnten waren Pfarrer vor Ort, die einen polnisch klingenden Namen hatten, und es scheint so, dass sie auch die polnische Sprache beherrschten. Zumindest lassen ihre Einträge über polnische Beteiligte keine orthographischen Auffälligkeiten erkennen; im Gegenteil finden häufig diakritische Zeichen Verwendung, die nur das polnische, nicht aber das deutsche Alphabet kennt.
Im gleichen Zeitraum weisen die Register von Schillgallen geradezu eklatante Schwächen bei der Niederschrift deutscher und litauischer Personen- und Ortsnamen auf. Die Namen sind oft derart verballhornt, dass nur mit Mühe oder gar nicht mehr erkennbar wird, wie sich die fragliche Person selbst genannt haben mag; immer wieder findet sich in den ersten Jahrzehnten auch eine Tendenz der Registerführer, deutsche und litauische Namen mit polnischen Endungen zu versehen. Auch tauchen immer wieder Ortsbezeichnungen auf, die man selbst bei fundierter Kenntnis der Geografie der Region keiner bekannten Siedlung zuzuordnen vermag.
Hat es nach allem den Anschein, als hätten sich die Pfarrer von Schillgallen- zumindest in den ersten Jahrzehnten- wenig Mühe gegeben, sich mit den sprachlichen Gegebenheiten vor Ort vertraut zu machen, so kommt dies besonders bei der Behandlung der Vornamen - besonders der litauischer Vornamen - zum Ausdruck. Gängige Vornamen wie „Kristups“, „Mikkelis“, „Maryke“ oder „Elske“ kommen praktisch nicht vor, sondern es finden sich durchweg deutsche Entsprechungen, wobei die mangelnde sprachliche Kompetenz ein ums andere Mal deutliche wird: So erscheint über Jahre hinweg ein „Anussis“ als ,,Anton'', ein „Endrikis“ als „Andreas“, eine „Urte“ als „Ursula“, und selbst der „gute deutsche“ Vorname „Erdmuth“ erscheint in den Büchern von Schillgallen häufig als „Martha“ - alles Fehler, die nur noch Kopfschütteln hervorrufen.
Die Register von Schillgallen lassen im Übrigen erkennen, dass es nach der Gründung der Pfarrei zu einem deutlichen Zuzug katholischer Bewohner in den Kirchort selbst gekommen sein muss. Vergleicht man die Zahl der Eheschließungen unter Beteiligung von katholischen Brautleuten aus Schillgallen mit der desselben Zeitraums im Heiratsregister der (für Protestanten aus Schillgallen zuständigen) evangelischen Kirche von Schakuhnen, so ergibt sich für Schillgallen sogar ein leichtes Übergewicht von„katholischen“ gegenüber „evangelischen“ Hochzeiten. Für eine Region, in der der Anteil an Katholiken im marginalen Bereich lag, ein geradezu erstaunliches Ergebnis. Schließlich ist, was die Kirchenbücher von Schillgallen betrifft, noch ein besonderer Hinweis geboten: Der Umstand, dass es in der „Tiefen Niederung“ und im nördlich angrenzenden Memelgebiet noch zu Anfang des 19. Jahrhunderts kein umfassend geregeltes katholisches Kirchenleben gab - die nächsterreichbaren katholischen Kirchengemeinden befanden sich in Tilsit bzw. in Memel-, führte dazu, dass die vereinzelt in der Region lebenden Katholiken bei Taufen, Eheschließungen und Sterbefallen regelmäßig nicht den weit entfernt residierenden katholischen Geistlichen in Anspruch nahmen, sondern den Pfarrer der für den jeweiligen Wohnsitz zuständigen evangelischen Kirche aufsuchten. Dementsprechend finden sich in den evangelischen Kirchenbüchern von Preußisch Litauen immer wieder vereinzelte Hinweise darauf, dass es sich bei einer konkret betroffenen Person um einen „Katholiken“ oder „Papisten2 handele.
Als 1823 in Schillgallen das katholische Kirchspiel eingerichtet wurde, brauchte es längere Zeit, bis sich dieses - mehr oder weniger - in der Region „etabliert“ hatte. Die Zahl der jährlichen Einträge in den Kirchenregistern nahm zwar stetig zu, aber es dauerte gleichwohl Jahrzehnte, bis sie sich auf einem „normalen“ Stand eingependelt hatte.
Im Übrigen war das aufgezeigte Problem, dass die relativ wenigen katholischen Gläubigen über ein großes Gebiet verstreut lebten, durch die Errichtung des Kirchspiels Schillgallen zwar gemildert, aber letztlich nicht beseitigt. Der neue Kirchenkreis war derart groß, dass für viele Angehörige der Weg zum nunmehr zuständigen Pfarrer in Schillgallen nach wie vor extrem weit und im Alltag praktisch nicht zu bewältigen war; die nördlich der Memel lebenden Katholiken waren gar, wenn schlechte Witterung eine Überquerung des Stromes unmöglich machte, vom Kontakt mit „ihrem“ Pfarrer abgeschnitten.
Es mögen diese praktischen Hindernisse, oft aber auch nur Bequemlichkeitsgründe gewesen sein, die dazu geführt haben, dass viele Katholiken auch nach 1823 für kirchliche Handlungen weiterhin den besser erreichbaren evangelischen Geistlichen aufsuchten. Wer etwa vor 1823 schon 10 Kinder beim evangelischen Pfarrer hatte taufen lassen, sah sich nicht unbedingt veranlasst, sich für das 1.824 geborene elfte Kindextra nach Schillgallen zu begeben. Und da die katholischen Pfarrer (anders als ihre evangelischen Amtskollegen) - zumindest in den ersten Jahrzehnten - wohl erheblich besser Polnisch als Litauisch beherrschten, mögen für manchen litauischen Muttersprachler in der Region auch sprachliche Probleme (oder herkunftsbedingte Animositäten) eine Rolle gespielt haben.
Vor dem aufgezeigten Hintergrund erklärt es sich, dass man sich, wenn man sich mit den Registern des katholischen Kirchspiels von Schillgallen befasst, immer bewusst sein muss, dass man eine Familie möglicherweise nicht vollständig erfasst, wenn man sich auf die Durchsicht dieser Register beschränkt. Vielmehr wird sich bei konkreten Recherchen häufig zeigen, dass man zu ein und derselben Familie sowohl in den Büchern von Schillgallen als auch in den evangelischen Registern der Gegend fündig wird.
Das gilt nicht nur für die Fälle, in denen etwa ein Ehepaar in Schillgallen nur 1824 mit einer Taufe verzeichnet ist und die Vermutung naheliegt, dass sie schon vor Einrichtung des Kirchspiels Kinder hatten, die - notgedrungen - in einem der evangelischen Kirchspiele getauft worden waren. Auch in späteren Jahrzehnten gibt es immer wieder katholische und gemischt-konfessionelle Familien, die sich nur dann vollständig mit Eheschließung und allen Geburts- und Sterbevorgängen erfassen lassen, wenn man neben den Registern von Schillgallen auch die Register der ggf. für den Ort zuständigen evangelischen Sprengel durchforstet.
Die Situation wird noch dadurch erschwert, dass die Klientel der katholischen Kirche sich in weitaus stärkerem Maße als die der evangelischen „Konkurrenz“ aus Angehörigen der „einfachen“' Bevölkerung zusammensetzte. Etablierte Kölmerfamilien, deren Vorfahren Jahrhunderte zuvor ins Land gekommen waren, waren nahezu ausnahmslos evangelisch. Die Landwirtschaft, die die Region prägte, benötigte aber auch billige Arbeitskräfte - insbesondere Saisonarbeiter-, und bei diesen handelte es sich vielfach um Wanderarbeiter, die es aus wirtschaftlichen Gründen aus den katholisch geprägten Nachbarländern nach „Preußisch Litauen“ getrieben hatte. Die ungewöhnlich hohe Anzahl an „polnischen“ Namen, die man in den Kirchenbüchern von Schillgallen antrifft, belegt dies nachdrücklich.
Vor dem sozialen Hintergrund der katholischen Bevölkerung in der Region wird verständlich, dass diese deutlich weniger „sesshaft“ waren als andere Bewohner. Und so finden sich unter den katholischen Familien, die in Schillgallen mit einem halbenDutzend oder mehr Kindern verzeichnet sind, nur sehr wenige, die diese alle an ein und demselben Ort bekommen haben, und nicht immer wird die Kirche in Schillgallen für die Betreffenden gut erreichbar gewesen sein. Wer daher, um seine katholische Ahnenlinie vollständig zu erlassen, auch die evangelischen Register überprüfen möchte, wird gezwungen sein, ggf. die Bücher gleich mehrerer Kirchspiele einzusehen.
Dr. Witold Peuster - entnommen der Website "http://www.maryke-bruiszate.de/" mit freundlicher Genehmigung des Autors -
|